Die Farbigkeit als stilistisches Ausdrucksmittel im Werk von Irina Gerschmann

Die Farbigkeit als stilistisches Ausdrucksmittel 
im Werk von Irina Gerschmann

Wer in das Atelier von Irina Gerschmann kommt, wird erst einmal überrascht, ja vielleicht verwirrt sein von der Vielfalt der Materialien, der Arbeiten, ja des gesamten Ambientes. Da gibt es Bilder in ganz unterschiedlichen Techniken, da gibt es eine Ecke, die eher an ein Modeatelier erinnert, da gibt es Materialien für Kunstwerke ganz unterschiedlicher Art – und es gibt Tische und viele Stühle, die die Künstlerin alleine gar nicht nutzen kann.

Damit sind wir mitten im Leben einer selbstbewussten jungen Frau, die in ihrer Wahlheimat Höchstadt an der Aisch ihr eigenes kreatives Talent zum Ausgangspunkt auch einer materiellen Existenz gemacht hat: im Haus der Vereine hat sie ihre eigene Kunstschule gegründet. Ihr Wissen gibt sie dort weiter und lebt gleichzeitig in der Fülle und aus der Fülle ihrer schöpferischen und gestalterischen Kraft.

Vor dem Hintergrund dieses Wissens kommt der Besucher schnell wieder zum Wesentlichen, zu der Kunst von Irina Gerschmann. In ihren Zeichnungen genügen wenige klare Striche, um eine Aussage zu formulieren. In ihrer Malerei ist es die klar definierte Flächigkeit der chromatischen Komposition, die den Betrachter intensiv anspricht. Dieses auf ihr Gegenüber Zugehen der Künstlerin ist so fordernd, dass der Betrachter antworten muss. Selbst wenn ihm das Sujet als solches weniger zusagt, ist die Aussagekraft selbst einer nahezu monochromen Arbeit, wie es etwa die „Flaschengeister“ sind, so groß, dass es schwer ist, der innewohnenden Aufforderung zur Selbstkritik auszuweichen.

Detailgenauigkeit in der Zeichnung und herausfordernde Farbigkeit sind zwei wesentliche Elemente im künstlerischen Schaffen von Irina Gerschmann. In ihren jüngeren Arbeiten hat die Modedesignerin das textile Material mit dem grafischen und malerischen Können der bildenden Künstlerin verbunden. Ihre Bilder haben textile Elemente aufgenommen.

Ein Höhepunkt dabei ist ihre Textil-Collage „Der ewige Zug der jüdischen Geschichte“, die in der Kronacher Synagoge zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wird. Eine erneute Überraschung auch bei dieser Arbeit: Geblieben sind die Detailgenauigkeit und der bewusste Einsatz von Farbe. Letztere vermisst der Betrachter, der die strahlende Leuchtkraft in Gerschmanns Bildern kennt und schätzt. Zumindest auf den ersten Blick.

Die Arbeit ist dem erdverbundenen Leinenstoff entsprechend eher erdfarben. Doch immer wieder blitzen intensive Farben auf, Farbsignale, die Akzente setzten. Rot, Grün, Blau sind die Marker, die aus dem Geschehen des Bildes bestimmte Sequenzen markieren. In seidig glänzendem Stoff lenken sie den Blick bewusst auf verschiedene Stellen der jüdischen Geschichte.

Ähnlich wie im christlichen Mittelalter die „Biblia pauperum“ – die Darstellung der biblischen Geschichten für Menschen, die des Lesens nicht kundig waren – fasst Irina Gerschmann mehrere tausend Jahre der Geschichte des jüdischen Volkes auf 300 mal 200 Zentimetern zusammen. Da aber die jüdische Religion immer eine Religion des Wortes war und ist, sind es nicht einfach Bildergeschichten, welche die Künstlerin erzählt. Sie verlangt dem Betrachter des Bildes einiges ab. Eine Fülle von kleinsten Bildern und eine schier unüberschaubare Menge von Namen und Begriffen sind aneinander gereiht: Von Abraham bis zu Golda Meir zeigen sie den Weg des jüdischen Volkes auf. Letztere sind noch leicht erkennbar: Bei Abraham sind es die wichtigen Elemente des von Gott als Gehorsamsbeweis verlangten Opfers, das Bildnis eines jungen Mannes, der Opferaltar und der schließlich tatsächlich geopferte Widder. Bei Golda Meir ist es ein Porträt der bekannten israelischen Ministerpräsidentin. Auf dem mehr als drei Meter langen Bild-Weg, der den über 3000 Jahre langen historischen Weg spiegelt, ist die Geschichte einschließlich der wichtigen jüdischen Gelehrten und Philosophen, Künstler und Wissenschaftler bis hin zu Einstein dargestellt. Auf Chagall wird verwiesen, indem ihn die Künstlerin mit für seine Malerei typischen Elementen ehrt. Wichtige Symbole jüdischen Lebens sind zu finden, wie die Menora, der siebenarmige Leuchter. Auch die regionale Vielfalt bis hin zu kleinen Stetl-Szenen spiegelt sich wider. Auf andere Dinge weisen nur Worte hin.

Doch zurück zur Farbigkeit. Bei der Erzählung der Geschichte ist Irina Gerschmann eine korrekte Chronistin, die nicht durch zu große Buntheit vom eigentlichen Geschehen ablenkt. Umso mehr fallen die leuchtenden roten Farben auf: klein und fast zaghaft noch bei der so wichtigen Prüfung Abrahams. Ganz massiv fallen dann drei Streifen auf, rot, blau grün.

Sie finden sich an einem wichtigen Punkt im Leben des jüdischen Volkes: Das Ende der ägyptischen Sklaverei, den Beginn der Geschichte als Volk im eigenen Land und nicht zuletzt das an Moses und das jüdische Volk auf dem Sinai gegebene Wort Gottes.

Warum aber gerade diese drei Farben? Rot ist immer ein Warnsignal. Rot weist auf die Unterdrückung durch die Knechtschaft in Ägypten hin, Grün wird weithin verbunden mit Neubeginn und Hoffnung – dem Start in das eigenständige Leben. Ein kleineres Stückchen Grün findet sich auch in dem zeitlichen Bogen der Staatsgründung Israels. Und warum blau? Hier ist es vielleicht erlaubt, ein wenig zu assoziieren – mit den Farben des Meeres, durch das das jüdische Volk zog, mit den Farben des Staates Israel, mit den Farben, die sich im jüdischen Gebetsmantel finden.

Der rote Stoffstreifen findet sich dann noch einmal, viel größer, viel beherrschender. Er steht im 20. Jahrhundert für die Schoah, den Mord an sechs Millionen jüdischer Menschen.

Wenn wir so die Bedeutung der Farbe Rot in diesem Bild von Irina Gerschmann erfasst haben, fällt auf, dass sich diese Farbe durch das gesamte Bild zieht. In einem diskreten Weinrot zwar, in unauffälligen Strichen, aber sie durchziehen das Bild ebenso regelmäßig und zurückhaltend, wie sich die Pogrome durch die lange Geschichte der Juden gezogen haben. Die Striche verletzen nur die dargestellten Personen, Häuser, Gegenstände. Sie lassen den Betrachter auf den ersten Blick genauso wenig aufschreien, wie das die nichtjüdische Umwelt der Täter getan hat – durch alle Jahrhunderte und Jahrtausende. Nur das knallige Leuchtrot der ägyptischen Sklaverei wurde auch von Außenstehenden bemerkt – und der Holocaust, der die Weltgeschichte verändert hat.

Auf diese Weise, spielend mit der Signalwirkung weniger Farben, sind die für Irina Gerschmann wichtigen stilistischen Elemente einer hohen Präzision in der Zeichnung und Strichführung und einer plakativen Farbigkeit auch in dieser Arbeit zu finden.

2008
Miryam Gümbel sel. A. (2022)
M. A. Historikerin und Journalistin, München